Neue Ansätze 1985/86
Konziliarer Prozess | Ausreise ist Menschenrecht
Konziliarer Prozess
Als 1984 die „Nachrüstung“ in Ost und West vollzogen wurde, resignierte anfangs die blockübergreifende Friedensbewegung. Alle Mühe und Kraft hatte nicht geholfen, das Wettrüsten zu beenden. Seit 1983 kam es innerhalb der christlichen Kirchen angesichts des weltweiten Bedrohungspotentials zu einer globalen Reformbewegung. Auch die Probleme im Umweltschutz, die Menschen- und Minderheitenrechte, die Stellung der Frauen, die globale Ungerechtigkeit fanden über die engagierten Gruppen hinaus stärkere Beachtung. Im sog. „Konziliaren Prozess“ wollten sich die Kirchen weltweit in einem Bund zusammenfinden, um die von Massenvernichtungswaffen bedrohte „Schöpfung“ zu erhalten. „Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Bewahrung der Schöpfung“ wurden zu zentralen Leitmotiven christlichen Handelns. Jeder trug in diesem Sinne Verantwortung in seinem persönlichen Umfeld. Der „Konziliare Prozess“ wurde daher stark von Vertretern der Basisgruppen getragen und ausgestaltet. Er mündete in drei "Ökumenische Versammlungen" 1988/89, in denen zwölf Resolutionen zu notwendigen Veränderungen in der DDR und der Welt formuliert wurden.
Kontakte, das Informationsblatt des Leipziger Jugendpfarramtes, forderte zur Mitarbeit auf. | Quelle: ABL
In der DDR beriefen sich zivilgesellschaftliche Gruppen unter dem Dach der Kirche auf diese Politik, rechtfertigten damit ihr Engagement gegenüber den Kirchenleitungen und nahmen diese in die Pflicht. In der Folgezeit kam es vermehrt zu weiteren Gründungen von basisdemokratischen Kirchengruppen. Die Amtskirche wiederum geriet durch diese Entwicklung weiter in die Bredouille, lag doch die Interpretationshoheit über „Gerechtigkeit“ und „Frieden“ bei der SED. Sie musste zwischen den Vorgaben der SED und den Forderungen ihrer Laienbewegungen regelmäßig vermitteln und geriet dabei zwischen die Fronten.
Ausreise ist Menschenrecht
Gleichzeitig diskutierte die europäische Friedensbewegung neue Ansätze zur Befriedung des Kontinents. Demnach würde u.a. nur die Überwindung des Status Quo (der Nachkriegsordnung) zu einem dauerhaften Frieden führen. Für die beiden deutschen Staaten hätte dies bedeutet, die Mauer und die deutsche Teilung in Frage zu stellen – bis dahin ein Tabuthema durch die Verantwortung gegenüber den Verbrechen im Nationalsozialismus.
European Nuclear Disarmament (END) war die bedeutendste außerparlamentarische Friedenskampagne in den 1980er Jahren. Hier wurden auch immer wieder Statements von ost-mitteleuropäischen Friedensgruppen in Umlauf gebracht. Die Erklärung der tschechoslowakischen Charta 77 von 1985 brach ein Tabu, in dem die deutsche Teilung als ein Hindernis im europäischen Abrüstungs- und Einigungsprozess gesehen wurde. Ost- und westdeutsche Friedensaktivisten konnten diese Sichtweise nicht teilen.
Das Nachdenken über diese mörderische Grenze setzte unweigerlich neben der Friedensfrage auch die Menschenrechtsfrage auf die Tagesordnung. Zum universellen Menschenrecht gehöre auch das Recht zur Ausreise aus der DDR in die Bundesrepublik. Mitte der 1980er Jahre stieg die Zahl der „Antragsteller“ sprunghaft.
Doch wie mit den Antragstellern im Diskurs um „Gerechtigkeit“ und „Frieden“ umgehen?
Es stellte sich für viele die persönliche Frage „Bleiben?“ oder „Gehen?“
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
Die SED reagierte auf die Ausreisewelle mit antikapitalistischer Propaganda. Dazu stellte sie die DDR in den Medien als den besseren deutschen Staat dar.
SED-Parteizeitung „Neues Deutschland“, 6. März 1985 – Die West-Ost-Migration betrug Mitte der 1980er Jahre ca. 2.000 Personen pro Jahr
Zunächst blieben die Leipziger Friedensgebeten von diesen globalen Impulsen unberührt. Nicht selten nahmen nur 5 bis 15 Interessierte daran teil. Während in anderen Städten die Friedensgebete vorerst einschliefen, zogen in Leipzig die Teilnehmer innerhalb der Nikolaikirche in immer kleinere Räume.
Konstanz bewies u.a. die Initiative „Frauen für den Frieden“. Diese Gruppe durfte in Ermangelung von Räumlichkeiten nach jedem Friedensgebet die Kirche zu einem „Nachtgebet“ nutzen und sich austauschen.
Ein Rundbrief im Sommer 1985 an alle Leipziger Gemeinden sollte diese mobilisieren, sich nach der Sommerpause regelmäßig in die Friedensgebete einzubringen. Dazu diente auch die Gründung des Bezirkssynodalausschusses „Frieden und Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" bestehend aus Geistlichen und Laien im Januar 1986. Auf der Grundlage des konziliaren Prozesses sollten alle aktiven Gruppen zusammengeführt werden, um die Gestaltung der Friedensgebete besprechen zu können.
Rundbrief Sommer 1985 / Quelle: ABL