Historischer Hintergrund
KSZE-Prozess | Charta 77 und Solidarność | Westeuropäische Friedensbewegung | Wehrkundeunterricht und Militarisierung des Alltags | „Schwerter zu Pflugscharen“ | Sozialer Friedensdienst – SoFd
KSZE-Prozess
Mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) versuchten erstmals die Staaten West- und Osteuropas unter Einbeziehung der USA und Kanada die Entspannung in Europa durch multilaterale Zusammenarbeit zu sichern. Bis auf Albanien unterschrieben alle europäischen Länder am 1. August 1975 die Schlussakte in Helsinki. Es wurden Leitlinien zur Verbesserung der sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und humanitären Beziehungen aufgestellt. Das Vertragswerk stellte kein Völkerrecht dar, sondern die Regierungen gingen mit ihrer Unterzeichnung eine Selbstverpflichtung ein. So wollten die Teilnehmerstaaten u.a. gewährleisten, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten. Durch diesen Passus nahmen fortan osteuropäischer Menschenrechtsgruppen ihre jeweiligen Regime in die Pflicht. Die sozialistischen Staaten sicherten sich dafür die Festschreibung der territorialen und politischen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg.
„Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen“
Das SED-Organ „Neues Deutschland“ veröffentlichte den Text der Schlussakte. Damit konnte sich jeder Bürger über die humanitären Regelungen informieren. Ausreisewillige beriefen sich fortan auf die Unterschrift der DDR-Regierung.
Charta 77 und Solidarność
Die Charta 77 in der Tschechoslowakei (1977) und die Gewerkschaft Solidarność in Polen (1980) waren die ersten osteuropäischen Menschenrechtsorganisationen, die sich öffentlichkeitswirksam auf die Unterschrift ihrer Regierungen unter die KSZE-Akte beriefen. Diese hatten unterschrieben: „Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten.“
Während die intellektuelle Auseinandersetzung der Charta 77 zunächst nur die wenigen Dissidenten in der DDR erreichte, änderte sich das ab Mitte der 1980er Jahre durch den Aufbau oppositioneller Strukturen im Land. Der aktionsbetonte Protest und die Massenbasis der Solidarność (1981: 10 Mio. Mitglieder) fand in der DDR zunächst eine viel stärkere Beachtung. Vor dem Hintergrund der Schließung der Grenzen im Oktober 1980 und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 wurde in privaten und kirchlichen Kreisen der DDR-Sozialismus hinterfragt.
„Menschen werden zu Opfern einer Apartheid“
Am 6. Januar 1977 sollte die Erklärung der Regierung der ČSSR übergeben werden. Doch der Geheimdienst verhinderte dies. Am 7. Januar erschien das Statement in führenden Tageszeitungen in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik.
Westeuropäische Friedensbewegung
Nach einer kurzen Phase der Entspannung durch den KSZE-Prozess kam es Ende der 1970er Jahre zu einem erneuten Rüstungswettlauf zwischen den Supermächten. Auf die Modernisierung sowjetischer Mittelstreckenraketen (SS-20) reagierte die USA mit der Stationierung von Atomraketen in Westeuropa. Der sog. NATO-Doppelbeschluss von 1979 führte zum Anwachsen der westeuropäischen Friedensbewegung. In Westdeutschland kam es zu den größten Massendemonstrationen der Nachkriegsgeschichte.
In Ost und West fühlten sich die Menschen von der Großmachtpolitik gleichermaßen bedroht. Das Spiel mit dem Feuer mobilisierte im Westen Hunderttausende und in der DDR führte diese Bedrohung zu einem größeren Selbstbewusstsein gegenüber dem Staat. Regimeübergreifend wurde von Friedensaktivisten die aktuelle Machtpolitik in Frage gestellt und über Alternativen nachgedacht.
„Wir fühlen uns mit der Friedensbewegung des Westens verbunden.“
Da die Staaten Europas in den beiden Militärblöcken erstarrten, strebten tschechische, slowakische und DDR-Dissidenten ein breites Bündnis unabhängiger Friedensgruppen an. Im Jahr 1984 verfassten sie einen Aufruf zur internationalen Zusammenarbeit.
Wehrkundeunterricht und Militarisierung des Alltags
Eine ebenfalls gegenläufige Tendenz zur „KSZE-Befriedung“ bildete die zunehmende Militarisierung des Alltags in der DDR Ende der 1970er Jahre. Die Einführung eines obligatorischen Wehrkundeunterrichts in den POS-Schulen ab 1978 (ab 1981 in den Abiturklassen) war ein vorläufiger Höhepunkt. Im Blockunterricht wurde den Jugendlichen die Geschichte der Nationalen Volksarmee (NVA) und des sozialistischen Militärbündnisses, dem „Warschauer Vertrag“, nahegebracht. Ziel war u.a. die Rekrutierung von beruflichem Nachwuchs für die NVA. Bestandteil des Unterrichts waren praktische Übungen in zweiwöchigen Wehrlagern für die Jungen bzw. für die Mädchen in der Zivilverteidigung.
Dagegen protestierten die Kirchen. In der evangelischen Kirche wurden Konzepte zur Friedenserziehung entwickelt. Die Einführung des Wehrkundeunterrichts war der unmittelbare Auslöser für die Friedensgebete in Erfurt 1978.
Ministerium für Volksbildung, 15.6.1978
(Antwort auf die Eingabe)
„Werter Herr …!
… Im Zusammenhang mit den von Ihnen aufgeworfenen Fragen bitten wir Sie, sich an den zuständigen Schuldirektor Ihrer Kinder zu wenden. Er kann Ihnen die entsprechenden Auskünfte erteilen.“
„Schwerter zu Pflugscharen“
Als im November 1980 die erste Friedensdekade der evangelischen Kirche veranstaltete wurde, tauchten die vom sächsischen Landesjugendpfarrer Harald Brettschneider auf Vlies gedruckten Symbole erstmals auf. Damit umging er die sonst nötige Druckgenehmigung seitens der DDR-Behörden. Massenhaft verbreiteten sich das kleine, unscheinbare Bild als Lesezeichen und Aufnäher. Die besondere Ambivalenz bestand im unmittelbaren Bezug auf die Sowjetunion. Der „Große Bruder“ schenkte der UNO 1959 das abgebildete Motiv als Bronzeskulptur zum Ausdruck des Friedenswillens. Nun eignete man sich das propagandistische Bild im Stile des „sozialistischen Realismus“ an und kehrte es gegen die staatliche Propaganda. „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zum Symbol der unabhängigen Friedensbewegung und damit zum Reizthema für die SED. Viele Jugendliche bekundeten selbstbewusst ihre pazifistische Überzeugung. An Brisanz gewannen die Aufnäher ab dem Frühjahr 1981, als in Dresden die kirchliche Initiative zur Einführung eines Sozialen Friedensdienstes (SoFd) gestartet wurde. Jetzt machten die Schulen, Universitäten, Betriebe und die Polizei Jagd auf die Jugendlichen und nötigten sie, das Symbol von ihrer Kleidung abzutrennen. Allein in Leipzig hatte die Polizei 1982 über hundert junge Männer „zugeführt“, die sie im öffentlichen Raum mit den Aufnähern auf ihrer Kleidung antraf.
„Tragen von pazifistischen Symbolen“
„Abzeichen war in der Öffentlichkeit sichtbar. Bei Einschreiten der Genossen der Schutzpolizei wurde entfernen des Abzeichens verweigert. Zuführung zwecks Klärung erfolgte.“
Sozialer Friedensdienst – SoFd
In der Zeit der atomaren Hochrüstung wurde das Problem Wehrpflicht und Armeedienst zur Gewissensfrage und bildete in den Jungen Gemeinden ein Dauerthema. Verweigerung wurde mit Gefängnis bestraft und die einzige Alternative, der Dienst ohne Waffe (Bausoldat), war ein fauler Kompromiss. Nach mehrmonatiger Vorarbeit veröffentlichten Dresdner Theologen (Christoph Wonneberger, Christian Burkhardt und Christoph Wetzel) eine Initiative zur Einführung eines sozialen Friedensdienstes in der DDR. Doch die Synode ihrer Kirche unterstütze den Antrag an die Volkskammer nicht. Also wurde das Papier in einer Art Kettenbrief innerhalb der evangelischen Jugendarbeit verbreitet. Die Jugendlichen waren aufgefordert, an die Synode ihrer Landeskirche zu schreiben, damit diese sich dafür einsetzt, dass das Wehrdienstgesetz von der Volkskammer geändert werde.
„Wir suchen nach Wegen zum Frieden“
„Die Volkskammer möge beschließen: Als gleichberechtigte Alternative Wehrdienst und Wehrdienstersatz wird ein sozialer Friedensdienst eingerichtet.“ (PDF Download)
Dem Aufruf folgten innerhalb eines viertel Jahres geschätzte 5.000 Jugendliche. Diese Dynamik wurde vom Staat sofort als Bedrohung begriffen und er ging dagegen vor.
„Unsere ganze Republik ist sozialer Friedensdienst“
Am 19./20.11.1981 tagte das Zentralkomitee der SED. Dabei wurde die Initiative als „friedens-, sozialismus- und verfassungsfeindliche Aktion“ und die Unterzeichner als „Feinde“ diffamiert. Als Christoph Wonneberger 1987 zu seiner Idee von Aktivisten interviewt wurde, sorgte die Reaktion der SED darauf für Gelächter.