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Rebecca Heims: Mit dem Fahrrad über die grüne Grenze, mit dem Mercedes zurück

Ich habe niemanden eingeweiht. Nicht meine Mutter, nicht meinen Bruder. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen.

Kurz nach dem mein Opa im Westen ankommt, verfestigt sich immer mehr die Mauer.

Ich hab Glück gehabt, sagt er. Wir fahren zu dem Haus, in dem er geboren wurde.

Es liegt am Rande der Stadt im Osten. Der andere Teil der Familie zwei Orte weiter im Westen. Das Haus, zweimal besetzt. Einmal mit den Amerikanern, die sie mit wohnen ließen. Ein Kommandant, der mit einem Kugelschreiber die spätere Grenze einzeichnete auf einer Landkarte.

Mit einem Kugelschreiber, sagt Opa, so was hatte ich vorher auch noch nicht gesehen. Sie haben uns geraten mitzugehen. Bevor die Russen kommen.

Die Russen kommen und quartieren meinen Opa mit Bruder und Mutter zu einer fremden Familie. Der Mensch musste sich anpassen. Er musste sich an den Krieg anpassen, an Werte glauben, die zweifelhaft sind. Er musste sich befreien lassen, er musste all das vorher Gelernte wieder vergessen. Er musste neue Werte lernen. Er muss sein Haus räumen. Seine Familie nicht mehr sehen. Er muss sich von der Grenze fernhalten. Er flieht.
Heute fahren wir mit dem Mercedes hier hoch, schauen nach dem Rechten. Halten an dem See, der durchschritten war von einer Grenze. Hier hatten sie auch ein Haus, bis alles bankrott ging nach der Wende, sagt er. Die Wende hat einiges kaputtgemacht hier oben.
Fahren durch viele Ortschaften, die immer mehr Resthöfe verkaufen. Schauen nach den Vermietungen. Hier war früher eine Kneipe drin. Da vorne ein Schreibwarenladen. Dort unten ein Elektriker.

Ob es mir hier drüben gefällt, fragt die Verwandtschaft. Drüben. Drüben über der Grenze. Drüben im Osten. Wenn mich jemand fragt, woher meine Familie kommt, sage auch ich von drüben. Drüben, welches für mich nie existent war. War, denn hier oben ist es in jeder Wand noch zu spüren. In jeder Falte, die sich durch die Gesichter meiner Verwandten zieht, merkt man sie noch. Die Grenze, die Mauer. Die Falten sind wie die feine Äderchen der Elbe, die sich durch die Landschaft schwemmt. Falten von Umstellung. Falten von neuen Regeln, neuen Beschränkungen. Falten von Flucht, vom verlassen werden, von nie wieder ganz zurückkommen. Die Mauer mag gefallen, die Politik eine andere. Die Grenze noch eine klare Erinnerung. Bald bauen sie eine neue Autobahn, heißt es 2017. Dann ist es einfacher, hier hochzukommen. Stück für Stück schließen sie die Altmark besser an. Stück für Stück renovieren sie die alten DDR-Straßen. Stück für Stück. Vielleicht bringt es dann mehr Berliner in die Stadt hier. Zum Zurückziehen.

Während wir zu Besuch sind, fällt das Wort Wende kein einziges Mal. Später spreche ich ihn darauf an. Er habe viel geweint, sagt Opa. Seinen besten Freund angerufen, der im Osten blieb. Ihn nicht erreicht. Für ihn Erleichterung. Für den im Osten geblieben Verwandtschaftsteil eine finanzielle Katastrophe. Kurz nach Mauerfall wird expandiert. Man versucht aufzuholen, was im Westen bereits Jahre existiert. Baut neue Firmengebäude, rüstet Büros auf. Nichts passiert. Der Westen lässt sie gefühlsmäßig im Stich. Kurz danach gehen viele. Gehen weg, um sich etwas Besseres anderswo auszubauen. Und treiben den Rest noch mehr rein. Diese Enttäuschung ist spürbar. Die heruntergefallene Ekstase klebt immer noch in den Straßenrillen. Man hat sich versucht schnell anzupassen, vorzubereiten für die Welle. Die Welle, die nie kam, aber die Grenze, die blieb. Die Freundschaften und Hochzeiten zwischen Dörfern wurden durch die Mauer geteilt und weitere verhindert, sie flachten größtenteils ab. Die Alten, mit denen man verhandelte, von denen man Pferde auf dem Hof stehen hatte, im nächsten Dorf, verstorben. Die Kinder kennen die anderen nicht mehr. Sie kennen die Trennung. Die Stadt im anderen Teil Deutschlands. Das Dorf hinter der Mauer. Den abgetrennten Kontakt. Die Autobahn, auf der mein Opa damals flüchtete, wird wieder auf beiden Seiten genutzt. Heute ist es die A2. Heute wachsen auf der einen Seite keine Birken mehr. Heute wird dort niemand mehr zum Überqueren angehalten. Heute interessiert sich auch niemand mehr dafür, dass er von dem Besuch seiner Oma im Westen ein Dorf weiter nie wieder zurückgekommen ist. Jedenfalls nie wieder über diese Grenze. Aber er hält sie fest. Die Bilder, Geschichten. Die Hoffnung. Die netten Amerikaner im Haus, die unfreundlichen Russen. Die Mauer. Die Aufregung. Die Ekstase. Die Expandierung. Die Enttäuschung. Ein alter Busunternehmer hat jetzt ein Zigarettenkiosk. Das läuft. Die Busse liefen nicht mehr. Am Rande der Stadt steht die Baracke eines nie genutzten Firmengebäudes. In den Städten reihen sich die leeren Ladengeschäfte. Man baut um in Büroflächen und Wohnungen. Bald kommen die Berliner. Bald kommt die Autobahn.

Man kann eine Mauer entfernen, sagt er, man kann sie abreißen, einstürzen und Teile davon in andere Städte stellen. Aber eine Grenze muss man rauswachsen lassen. Aus dem Boden, der Erziehung und der Sprache. Aus der Weitervererbung, aus dem Feld. Ich sage manchmal immer noch von drüben. Opa fährt immer noch diese Straße. Und wie tiefe Falten fräst sich die Vergangenheit durch den Asphalt. Bis die neue Autobahn kommt. Dann, sagt Opa, wird alles besser.

Rebecca Heims
geboren 1996 in Mainz. Lebt und arbeitet als Autorin und Spoken Word Künstlerin in Bochum. Bundespreisträgerin der jungen Autoren 2018 in der Kategorie Lyrik/Drama sowie Vize Rheinland- Pfalz Meisterin im Poetry Slam 2018. Zuletzt Gast beim Internationalen Literaturfestival in Berlin im Rahmen des Nachwuchsbereichs der Berliner Festspiele.

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