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Wladimir Kaminer: Berliner Mauer

Über die Berliner Mauer wussten wir nicht viel, nur das, was in unseren Lehrbüchern über die europäische Nachkriegsgeschichte stand. Diese Informationen waren auf das Wesentliche reduziert und beanspruchten nicht einmal zwei Seiten. Die sowjetische Armee hatte es 1944-45 nicht geschafft, ganz Europa zu befreien, weil ein Teil davon bereits von den Amerikanern befreit worden war. Deswegen war Europa in zwei Lager getrennt, die von uns befreiten Völker haben sich dann freiwillig für den Sozialismus entschieden.

Über die Berliner Mauer wussten wir nicht viel, nur das, was in unseren Lehrbüchern über die europäische Nachkriegsgeschichte stand. Diese Informationen waren auf das Wesentliche reduziert und beanspruchten nicht einmal zwei Seiten. Die sowjetische Armee hatte es 1944-45 nicht geschafft, ganz Europa zu befreien, weil ein Teil davon bereits von den Amerikanern befreit worden war. Deswegen war Europa in zwei Lager getrennt, die von uns befreiten Völker haben sich dann freiwillig für den Sozialismus entschieden. Die anderen mussten einen kapitalistischen Weg einschlagen, weil sie von den Amerikanern unter Druck gesetzt wurden. Mit Deutschland war es etwas komplizierter. Das Land wurde aus ideologischen Gründen geteilt: alle Ex-Nazis fanden in Westdeutschland Unterschlupf und die Antifaschisten gründeten die sozialistische DDR. Die Mauer ist dann erst später dazu gekommen: als Symbol des getrennten Deutschlands und weil die Westberliner die seltsame Angewohnheit entwickelten, ihre kapitalistischen Westlöhne im preiswerten Osten auszugeben und damit permanent alle Ladenregale dort leerräumten. Sie wollten praktisch auf zwei Pferden gleichzeitig reiten - im Kapitalismus verdienen und im Sozialismus einkaufen. Zuerst betrachteten das die ostdeutschen Arbeiter mit einer gewissen Nachsicht, aber dann platzte ihnen irgendwann mal der Kragen und ihr Generalsekretär Walter Ulbricht war zum Handeln gezwungen. Er wollte soziale Gerechtigkeit und befahl, die Westberliner einzumauern. Über Nacht umzingelten bewaffnete Arbeiterbrigaden den Westteil der Stadt mit einer zunächst provisorischen Mauer. Am nächsten Tag machten die Westberliner wahrscheinlich ein dummes Gesicht, als sie wie immer in der DDR einkaufen gehen wollten.

Diese Mauerbau-Erklärung war für uns Schüler total einsichtig. Auch in Russland ließ die Regierung immer mal wieder ganze Siedlungen einmauern. So geschah es zum Beispiel mit der Kosmonautensiedlung Sternenstadt, nicht weit von Moskau entfernt. Dort sollten eigentlich nur Kosmonauten mit ihren Familien leben und einkaufen. Weil die Kosmonauten viel Zeit im All unter schweren Bedingungen verbrachten, wollte die sowjetische Regierung ihnen ihr Leben auf der Erde ein wenig versüßen. In den Läden des Sternenstädchens gab es deswegen vieles, was es sonst nirgendwo gab: tolle Wurst, Himbeer-Konfitüre, gute Zigaretten und teuren Schnaps. Und natürlich standen die Bewohner aus allen naheliegenden Dörfern und sogar aus Moskau dort Schlange, um diese Produkte zu ergattern. Die Kosmonauten hätten locker noch zehn Runden um die Erde drehen können, bis sie an ihre eigene Wurst rangekommen wären. Kurzerhand ließ die Partei eine Mauer um das Sternenstädchen errichten und platzierte drei Soldaten mit einem Maschinengewehr vor das Tor. Die Partei hatte ihre Ruhe - die Kosmonauten ihre Wurst. Natürlich stellten wir uns die Berliner Mauer viel größer und architektonisch schöner als diese vor. Alle Welt wusste doch, dass die Deutschen fanatische Bauarbeiter sind und oft und gerne bauen. Sogar in Moskau und Leningrad waren viele große Schlösser, Denkmäler und Fontänen von den Deutschen erbaut worden, und die sibirische Eisenbahn von deutschen Gefangenen.

Ein Bild von der Mauer gab es in unserem Geschichtslehrbuch nicht.

Mitte der achtziger Jahre ergab sich für mich und meinen Freund unerwartet die Gelegenheit, die Berliner Mauer mit eigenen Augen anzuschauen.

Alles, was wir dort sahen, war für unsere Moskauer Verhältnisse, wie soll ich sagen, äußerst westlich. Unzählige Geschäfte, kleine Kneipen, Diskotheken und Restaurants...ein vielfältiges Wurstangebot und ebenso viele Biersorten, nur die Zigaretten schmeckten Scheiße, aber alles war zu Dumpingpreisen und von der allerbesten Qualität zu haben. Kein Wunder, dass Walter Ulbricht dieses Paradies vor den wilden Westkonsumenten schützen musste, dachten wir. Gleichzeitig erfuhren wir, die Ostdeutschen seien mit ihrem Leben höchst unzufrieden und würden in großen Scharen nach Westen abhauen. Jedes Jahr musste die ostdeutsche Regierung dreißig- bis vierzigtausend Bürgern die Ausreise genehmigen. Angeblich hatten die Westler drüben noch mehr Wurst. Uns war es schade um die schöne DDR. Mein Gott! Hätten sie dafür vierzigtausend Russen eingeladen, die wären glücklich gewesen.

Wir wollten die Mauer aus der Nähe sehen, gingen in Richtung Unter den Linden, an dem großen Theater vorbei, an der Humboldt Universität und dann plötzlich sahen wir sie: Ohh! Das war ein Ding, das seines gleichen suchte: Die Mauer selbst war nicht besonders hoch, mit einer kurzen Leiter konnte man sie besteigen. Aber das Mauertor in der Mitte war riesig und ausgesprochen pompös.

Zwei Panzer konnten nebeneinander da durchfahren, ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Wir wollten das herrliche Stück fotografieren, durften aber nicht zu nahekommen. Die letzten zwei hundert Meter waren mit Sperranlagen verrammelt und von Grenzsoldaten umzingelt. Die Berliner Mauer war wahrscheinlich die bestbewachteste Sehenswürdigkeit der Welt. Wir gingen die Mauer entlang, aber auch an anderen Stellen gelang es uns nicht, nahe zu kommen. Am nächsten Tag gingen wir noch ein letztes Mal für den Rest unseres Geldes einkaufen: Eierlikör für die Mütter, Doppelkorn für die Vetter. Abends reisten wir vom Bahnhof Lichtenberg nach Moskau ab. Zwei Jahre später lernten wir in Moskau zwei Westberliner kennen, die uns über die Mauer aus ihrer Sicht berichteten. Auf der anderen Seite, war sie nämlich gar nicht so schön, sogar richtig hässlich - voll mit Graffitis und reaktionären Parolen beschmiert. Viele Westberliner fürchteten sich, nachts an der Mauer entlang zu laufen. Oft verschwanden dort Menschen spurlos, wenn sie ihr zu nahekamen. Die Mauer stand nämlich mit ihren beiden Seiten auf ostdeutschem Territorium- auf der einen Seite war die DDR, und auf der anderen Seite auch noch - etwa 170 Zentimeter DDR. Das wusste im Westen nicht jeder. Und wenn sich z.B. ein Betrunkener an die Mauer stellte, um sich zu erleichtern oder ein Arbeiter einen kurzen Halt machte, um in ihrem Schatten eine Zigarette zu rauchen, ging plötzlich ein kleines Türchen in der Mauer auf, ein Vermummter mit einer Kalaschnikow kam heraus und zerrte denjenigen rüber - in die DDR. Alle diese Menschen kehrten nie wieder zurück. Was mit ihnen geschah, konnte man nur vermuten. Vielleicht wurde dadurch das vielfältige Wurstangebot im Osten aufrechterhalten oder sie wurden als Sklaven auf kubanische Zuckerrohrplantagen gegen Zigarren eingetauscht.

Dieser Horror ist nun aber schon längst Geschichte geworden. Deutschland hat sich wiedervereinigt. Zwar steht noch das große Tor Unter Den Linden aber die Mauer wurde zum Teil zu einem Kunst- und Gewerbeobjekt umgewandelt und zum andern Teil abgebaut.

Ihre Überreste, in kleine Tütchen verpackt, werden von türkischen Balalaikaverkäufern am Check-Point-Charly zu erschwinglichen Preisen an amerikanische Touristen verscherbelt. Dass die Steine nicht echt sind, interessiert keinen.

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren. Seit 1990 lebt er mit seiner Frau und inzwischen erwachsenen Kindern in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands. Im August 2019 erschien sein jüngstes Buch „Liebeserklärungen“.

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