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„Bronze-Gewinner“ einheitspreis 2020 der Bundeszentrale für politische Bildung

Ahne: Gedanken zum Herbst '89

Die Demonstrationen in der Wendezeit waren für mich wie eine zweite Geburt. Endlich passierte etwas um mich herum. Endlich bewegte sich etwas. Endlich brauchte ich mich nicht mehr in meine Phantasiewelten zurück zu ziehen, wie ich es all die Jahre zuvor getan hatte. Flucht als Überlebensstrategie.

Auf einmal machte es richtig Spaß hinaus zu gehen, auf der Straße zu sein, sich unter Menschen zu bewegen. Ich fühlte mich zum ersten Mal als Teil von etwas. Dabei kannte ich jene, die dort links und rechts neben mir liefen, nicht, die „Keine Gewalt“ skandierten oder „Stasi in die Produktion“, die „Dona nobis pacem“ sangen oder „Die Internationale“. „Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun, uns aus dem Elend zu erlösen, können nur wir selber tun“. Ja, wir sangen „Die Internationale“, auch wenn heutzutage einige nach rechts außen gedriftete ehemalige Bürgerrechtler den Eindruck zu erwecken versuchen, es sei damals ein Volk aufgestanden gegen den Sozialismus und die Teilung Deutschlands. Sicher, solche gab es, auch unter uns, Menschen, die sich eine Wiedervereinigung wünschten, kapitalistische Verhältnisse, gar ein großdeutsches Reich. Eine äußerst heterogene Menge fand sich zusammen, im Herbst 1989, auf den Straßen der Republik. Genauso jedoch hätte man behaupten können, diejenigen, die dort demonstrierten, wollten den Anarchismus, eine Welt ohne Grenzen, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, denn davon gab es mindestens ebenso viele, wie von jenen für mich unsichtbaren Patrioten. Was uns alle, auch die vielen Christen, oder Menschen, die sich keiner politischen Richtung zuordneten (sicherlich die meisten), verband, wir wollten freier werden. Wir wollten freier sein. Freier denken, freier reden, freier leben. Wir wollten endlich unseren Mund aufmachen. Wir wollten reisen können, wohin wir wollten, die Bücher lesen, die Musik hören, die Filme schauen, nach denen es uns gelüstete. Wir wollten wählen können, nicht nur verschiedene Parteien, sondern allgemein, zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Hört sich banal an, doch damals war allein das Ausdrücken dieser Gedanken schon eine Befreiung.

Zuvor erschien mir die Zukunft ja lediglich als Alptraum. Jahr um Jahr musste bewältigt werden. Eine anstrengende Aufgabe, das Leben zu meistern. Nach jedem Geburtstag rief ich innerlich erschöpft: „Geschafft!“

Sollte nun das Leben etwa doch Spaß machen? Ich freute mich auf jeden Tag im September und Oktober '89, wenn ich nach absolvierter Schicht zur Gethsemane-Kirche pilgerte. Die Knüppelschläge überforderter Volkspolizisten, die man ab und zu verpasst bekam, wirkten da wie hilflose Ohrfeigen eines autoritären Vaters, welcher der Jugend die erste Liebe des Lebens auszutreiben versucht. Zum Scheitern verurteilt. Lächerlich. Muss allerdings auch einräumen, wirklich schlimme Erfahrungen blieben mir erspart. Im Knast bin ich nicht gelandet, wurde lediglich in meinem Betrieb vor eine Kommission gezerrt, die mir allen Ernstes Revanchismus vorwarf. „Du willst doch Polen zurück haben!“, brüllte ein durchgeknallter Funktionär mit aufgeblähten Backen, weil ich an der Wandzeitung unserer Druckerei zum Bummelstreik aufgerufen und die Methoden der Sicherheitskräfte der DDR mit jenen der Pinochet-Junta in Chile verglichen hatte.

Was ich mir nicht vorstellen konnte, damals, dass schon kurze Zeit später vor allem in Sachsen und Thüringen die Masse der Demonstranten schwarz-rot-goldene Fahnen schwenkte, Helmut Kohl huldigte, vehement die D-Mark einforderte und nicht wenige auch tatsächlich die deutschen Ostgebiete wieder heim ins Reich holen wollten. Da waren wir in Berlin regelrecht geschockt, die meisten derer zumindest, die ich kannte.

Keine Ahnung, wie viele jener „Deutschland einig Vaterland“-Rufer vorher zur angepassten Basis des SED-Obrigkeitsstaates gehörten, ich jedenfalls empfand das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer als Sieg des Spießertums, als feindliche Übernahme der ostdeutschen Emanzipationsbewegung. Damit lag ich natürlich genauso falsch, wie heute die ehemalige SED-Genossin, dann Grünen-Politikerin, dann CDU-Abgeordnete und Merkel-Freundin, dann Merkel-Hasserin, Werteunion-Mitglied und AfD-Sympathisantin Vera Lengsfeld, wenn sie von einer antisozialistischen Freiheitsbewegung im Herbst '89 in der DDR spricht, welche die Wiedervereinigung erzwang.

'Fehlfarben' sangen einst „Geschichte wird gemacht“. Geschrieben wird sie, wie die meisten von uns ahnen, erst hinterher. Ich will, so lange ich lebe, versuchen, auch die Stimme derjenigen zu Gehör zu bringen, die im Herbst '89 für andere Dinge als einen wiedervereinigten deutschen Nationalstaat auf die Straße gingen. Klingt pathetisch, aber genauso ist mir im Moment zumute.

Ahne, 1968 in Berlin-Buch geboren, ist gelernter Offset-Drucker. Die Wende war für ihn ein Glücksfall: Er wurde arbeitslos und Hausbesetzer. Ahne war etliche Jahre bei den Surfpoeten aktiv und liest jeden Sonntag bei der Berliner Reformbühne Heim & Welt. Insgesamt sind von ihm vier Bände seiner »Zwiegespräche mit Gott«, fünf Bücher mit Kurzgeschichten sowie ein Lyrikband erschienen. Ahne ist einer der bekanntesten Lesebühnenautoren der Welt.

Rebecca Heims: Mit dem Fahrrad über die grüne Grenze, mit dem Mercedes zurück

Hier, sagt Opa, hier bin ich drüber gefahren.

Graue Schnellstraße, eine Seite genutzt, um Westberlin zu versorgen, die andere verwildert. Birken sind hier gewachsen, Schlaglöcher. Mit dem Rennrad nachts gefahren. Die Papiere eingewickelt im Rahmen und unter den Lenkerbändern. Es ist alles noch da. Die Straße, die Erinnerungen, die Grenzposten. Erinnerungen an die Nervosität bei der Kontrolle kurz vor dem Westen, an die Flucht. Nur das Fahrrad gibt es nicht mehr, verkauft um sich anderes zu leisten. Vielleicht auch, um zu vergessen.

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Jakob Hein: Danke für den Spieleabend

Liebe Familie Michel,

sehr herzlich wollten wir uns nochmal bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie uns die Teilnahme an Ihrem Spieleabend ermöglicht haben! Schließlich werden Sie schon bei unserem Anklopfen am 9. November geahnt haben, dass es sich bei uns um einen Haufen zivilisatorisch doch recht herausgeforderter Personen handelte und dennoch haben Sie uns am 3. Oktober einfach so an ihrem Tisch sitzen und mitspielen lassen. Wir sind Ihnen heute noch dankbar dafür, dass wir auf Ihren bequemen Hockern sitzen durften und nicht einfach stehen mussten, denn wir hatten ja selbst keine Sitzgelegenheiten dabei und insofern gar nicht verdient, bei Ihnen zu sitzen. Es war so toll zu sitzen, wir kannten sowas ja nur vom Gefängnis her. Ihre bequemen Sessel waren und sind für uns bis heute eine wichtige Inspirationsquelle, später irgendwann auch einmal in solchen tollen Möbeln sitzen zu dürfen. Mag sein, dass dann gar nicht genügend Platz an Ihrem Spieltisch wäre, aber das ist ja nicht der Punkt.

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Lea Streisand: Links, zwei, drei!

Meine erste Demo war der 1. Mai 1988. Ich war ein stolzer Jungpionier, (sogar Gruppenratsvorsitzende!) und zwei Schuljahre lang damit beballert worden, was für eine geile Party die Parade zum Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse sei. Eine Kombination aus Kindergeburtstag, Weihnachten und Woodstock. Dachte ich.

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Uli Hannemann: Wesserbossi

Die Wunden sind tief, doch keiner will unsere Geschichte hören. In den Debatten zum Jubiläum der Wiedervereinigung finden wir nicht statt. Unsere Transformationsleistung wird von der anderen Seite nicht anerkannt. Sobald wir nur den Mund aufmachen, gelten wir sofort als Jammerwessis. Es ist erstaunlich, wie wenig die Ostdeutschen über unser Land, unsere Kultur und unsere Mentalität wissen, und wie wenig sie sich dafür interessieren.

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Franziska Hauser: Äußerste Abweichung

Eigentlich wollte ich Fotografin werden. Wäre ich zehn Jahre älter, hätte ich jetzt ein romantisches Werk aus schwarzweißen DDR Fotos von heruntergekommenen leeren Straßenzügen mit vereinzelten Trabbis und Ladas, alten Leuten in Dederon-Kittelschützen und schmutzigen Kindern mit Straßenkatzen vorzuweisen.

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Paul Bokowski: Substitut und Suggestion

Fast genau zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fiel mein damaliger Mitbewohner, der nie in seinem Leben irgendein geopolitisches Interesse gezeigt hatte, eines Abends aus dem Küchenfenster. Drei Stockwerke tief, auf westdeutschen Waschbeton, zwei Meter neben den rettenden Wacholder. Ich fand ihn im fahlen Licht unserer Hoflampe, leise keuchend, alle Viere von sich gestreckt. Ein dünnes Rinnsal Blut trat aus seiner Schnauze. Der dumme Kater kotete sich ein, schielte stumpfsinnig an mir vorbei und starb mit einem letzten aufflammenden Krampf. Sein Sturz hatte mir einen Schlag versetzt, so unerwartet wuchtig, dass der Schmerz erst auf sich warten ließ, dann ausblieb. Entseelt, gleich einem Apparat, trug ich das tote Tier zurück hinauf, bettete es und wachte, die ganze Nacht, über dem Kadaver. Ich wollte weinen, aber konnte nicht.

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Jacinta Nandi: Die Wende, die mir immer näher kommt

Ich bin mit 20 nach Deutschland gekommen – ich denke immer, wenn ich mit 19 gekommen wäre, dann würde ich jetzt Deutsch klingen und die Leute würden mich respektieren.

“Jacinta?”, würde man sagen, hinter meinem Rücken. “Meinst du Jacinta Nandi? Sie ist mit 19 nach Deutschland gekommen.”

“Ach so”, würde man antworten. “Mit 19? Ist sie nicht hier geboren?” “Nee”, würde man dann erklären.

“Nee, die ist gebürtige Engländerin. Wenn man länger zuhört, merkt man eine leichte Akzent.”

Aber ich bin mit 20 Jahren hier gekommen. 20 Jahren, im Jahr 2000. Ich dachte damals nämlich, dass die Wende sehr sehr lange her ist. Ich bin zum Brandenburger Tor gegangen, um zehn Jahre Gesamtdeutschland zu feiern, in meinen Augen hätte es hundert sein können. Das ist, ehrlich gesagt, das komische an der Wende, sie ist ein historischer Benjamin Button – je älter ich werde, desto näher kommt sie mir in Nachhinein vor. Ich kann es nicht so richtig erklären. Aber: wenn es weiter so geht, erwarte ich doch, dass ich an meinem Sterbebett plötzlich merke, dass ich doch dabei gewesen bin.

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Jürgen "chA°s" Gutjahr: 1. Mai Demo- oder der observierte Frühschoppen

Walpurgisnacht. 1985

Wir saßen zu dritt in meiner kleinen, dunklen, von Schimmel befallenen Wohnung. Tümpel, Rolf1 und ich. 30. April, Walpurgisnacht.

Die Vorhänge zu gezogen…wie immer. Aus den Boxen brüllte „Feet Hacked Rails“ von Art Barbecue, ein Side Project von Controlled Bleeding.

Aber irgendwie waren wir nicht gut drauf, redeten kaum und tranken nur sehr wenig. Keiner wusste den Grund. Also keine Party, Bewusstseinserweiterung oder ähnliches. Aber Tümpel hatte die Idee, dass wir uns morgen 10 Uhr zum Frühschoppen treffen könnten. Er schlug eine der wenigen Kneipen vor, wo wir keinen Ärger bekamen. Großartige Idee! Wir verabschiedeten uns mit komplizierten Verabschiedungsritual, wie bei den Bloods oder Crips2 üblich, dann „Gute Nacht!“.

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Kirsten Fuchs: In Freiheit ist ein Ei.

Ich bin mit 12 in gewisser Weise gestockt. Aber ich bin kein Ei.
In Freiheit ist das Wort ei. Das könnte eine schöne Metapher sein für irgendwas, aber für was?
Eins in dem was wächst, ein faules, ein dickes, eins aus Schokolade.
Wenn das Leben dir ein Ei schenkt. Dann brüte es aus. Oder wirf es gegen ein Gebäude.

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Jean-Philippe Kindler: „Die friedliche Revolution“: Für die Legitimierung von Wut und Hass

Die Wahrheit ist: Ich fand den Terminus der „friedlichen Revolution“ immer schon lächerlich. Dafür brauchte es keine Montagsdemonstration von PEGIDA, die sich das mythologisierte Label „Montagsdemonstration“ auf die wehenden Schwarz-Rot-Geil-Fahnen schrieben. Ich weiß, ich weiß. Wir leben in einer Zeit, in der es gesellschaftlich wahnsinnig angesehen ist, die Dinge von ihrer positiven Seite zu betrachten. Bestseller heißen „Gegen den Hass“, Coaches predigen „gewaltfreie Kommunikation“ und die positive Psychologie verspricht uns das Glück, wenn wir es nur schaffen, negative Gefühle dauerhaft aus unserem Leben zu verbannen. Aus der politischen Öffentlichkeit sind diese jedenfalls verschwunden, denn seitdem die AfD durch die Emotionalisierung politischer Sprachbilder an Popularität gewann, steht die politische Emotion, vor allem die Negative, unter Generalverdacht. Wenn heutzutage der politische Text in Bewegung gerät, aus einigen der Zeilen eine Haltung, gar ein Erröten der Schrift herausragt, wenn das Gesagte von jemandem gesprochen wird, der offenkundig fühlt, dann begegnen wir dem mit Skepsis. Völlig egal, ob es sich um Björn Höcke oder Greta Thunberg handelt. Denn vor allem in den letzten Jahren manifestierte sich der erschreckend weit verbreitete Mythos, die Politik habe zur Ausprägung von Entscheidungsfähigkeit die Aufgabe, sich nicht von Gefühlen leiten zu lassen. Vor allem Emotionen wie Wut, Verärgerung, Neid und Hass erleben dadurch ihre Delegitimierung und Banalisierung. Das ist geschichtsvergessen.

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Jana Hensel: Mythos Wende 89

Die Wende, oder besser gesagt, die Friedliche Revolution des Jahres 1989, ist für mich kein Mythos, sondern war in meinem bisherigen Leben der wahrscheinlich massivste Einfall von Realität. An nichts erinnere ich mich so genau wie an meine großen, euphorischen Gefühle, während ich im Oktober 1989 als 13-jährige Schülerin gemeinsam mit meiner Mutter um den Leipziger Ring gelaufen bin. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich darüber rede, noch heute treten mir Tränen in die Augen, wenn ich die alten Bilder sehe. Manchmal ist mir das sogar peinlich. Und ich bin erleichtert, wenn ich merke, dass es anderen ähnlich geht.

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Wladimir Kaminer: Berliner Mauer

Über die Berliner Mauer wussten wir nicht viel, nur das, was in unseren Lehrbüchern über die europäische Nachkriegsgeschichte stand. Diese Informationen waren auf das Wesentliche reduziert und beanspruchten nicht einmal zwei Seiten. Die sowjetische Armee hatte es 1944-45 nicht geschafft, ganz Europa zu befreien, weil ein Teil davon bereits von den Amerikanern befreit worden war. Deswegen war Europa in zwei Lager getrennt, die von uns befreiten Völker haben sich dann freiwillig für den Sozialismus entschieden.

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