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Lea Streisand: Links, zwei, drei!

Ich nörgelte so lange, bis meine Mutter, die nicht gerade zu den regimetreuen Bürgerinnen der Deutschen Demokratischen Republik zählte, sich seufzend mit mir aufmachte in die Berliner Karl-Marx-Allee. Normalerweise schwänzte sie die Veranstaltung, zu der offiziell alle Werktätigen der DDR eingeladen (also verpflichtet) waren.

Es war so enttäuschend. Erich Honecker stand auf einer Tribüne inmitten einer Armee beigefarbener älterer Herren mit Hüten und winkte mal mit der linken, mal mit der rechten Hand dem gelangweilt vorüber latschenden Volk zu.
Ich hing erschöpft hinter der Absperrung und wartete auf das erhabene Gefühl, das mich beim Singen des Liedes vom Kleinen Trompeter stets überkam. Kam aber nichts. Ich tauschte mein rotes Wink-Element gegen einen Stiel Zuckerwatte und trottete enttäuscht nach Hause.
„Mutti, da müssen wir nicht noch mal hingehen“, teilte ich meiner erleichterten Mutter mit.

Anderthalb Jahre später fand auf dem Alexanderplatz die wichtigste Demonstration meines Lebens statt – und zwar OHNE MICH!!!
Es war die große Protestdemonstration am 4. November 1989.
Meine Eltern hatten Angst, dass es zu Handgreiflichkeiten mit der Polizei kommen könnte. Mein Vater studierte damals in Leipzig und hatte dort reichlich Konterrevolutionserfahrung gesammelt.
In meinem Tagebuch hielt ich, damals zehn Jahre alt, fest:

4. November 1989

Heute ist die große Demonstration auf dem Alexanderplatz. 1000000 Menschen gehen dahin. Mutti und Vati natürlich auch. Mir ist das zu anstrengend, ich gucke mir die Demo im Fernsehen an. Aber mit der Zeit wird das langweilig, weil man als Kind ja doch nicht kapiert, was die da reden. Deshalb gucke ich lieber Zeichentrickfilme. Zu der Demo gehen alle Bürger der DDR. Die Demo ist nämlich gegen Erich Honecker, weil herausgekommen ist, dass er uns alle (Bürger der DDR) betrogen hat:
- nachspioniert
- erpresst
- betrogen.

Die Demo verlief friedlich. Die Polizisten standen nur rum.
„Komm, Jenosse, reih dich ein!“, rief mein Vater einem der Aufpasser zu, welcher gnädig nickte und antwortete: „Nächstet Mal.“

In den turbulenten Monaten, die folgten, durfte ich nun jedes Wochenende mit meinen Eltern demonstrieren. Das war toll. Die öffentlichen Meinungsäußerungen ersetzten unsere öden Sonntagsspaziergänge im Volkspark Friedrichshain und man hatte gleich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, nicht nur für die eigene Verdauung, sondern für die Zukunft unseres Landes.

Die DDR machte zu. Das Leben lief weiter.

1991 demonstrierten wir gegen den Golfkrieg. Ich sammelte in der Schule Unterschriften für den Frieden und bekam Ärger mit meiner Klassenlehrerin, die fürchtete, sie würde ihren Job verlieren, wenn Schüler aus ihrer Klasse regierungskritische Unterschriftenlisten verteilten. Ich war 11 Jahre alt und fühlte mich mächtig.

Meine Eltern verloren allmählich das Interesse an den Aufmärschen. Statt zu Demonstrationen führten unsere Familienausflüge nun mit dem Fahrrad ins Berliner Umland, wo wir fluchend über ehemalige Truppenübungsplätze der NVA stolperten. Oder wir schlichen durch Kunstausstellungen, wo man, statt Parolen zu skandieren, nur leise flüstern durfte. „Nur Westler reden laut in Ausstellungen“, erklärte mein Vater. „Und zwar meistens ausgemachten Blödsinn“, ergänzte meine Mutter. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill. Ich wollte schließlich kein Westler sein.

Ab Mitte der Neunziger demonstrierte ich ohne Eltern. Ich rannte mit meinen Freundinnen zu Antifa-Demos, weil dort die süßen Jungs waren und marschierte singend mit anderen Bildungsbürgerkindern: „Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!“ Meine Mutter lachte sich halb tot.

Regelmäßig schritten wir Kinder vom Prenzlauer Berg die ehemalige Protokollstrecke ab, von unserer Schule am S-Bahnhof Ernst-Thälmann-Park, der seit kurzem wieder Greifswalder Straße hieß, bis hinunter zum Roten Rathaus.
Einmal mischte sich ein Rentner in unsere Mitte und ging ein Stück mit. „Worum jehts denn hier?“, fragte er.
„Na, um die Bildungsreformen!“ erwiderten wir.
„Ach so“, sagte er. „Ick dachte, es wär wegen der Telekom-Aktie.“

Seit der Jahrtausendwende gehe ich kaum noch auf Demos. Mittlerweile demonstrieren hierzulande auch vorwiegend Vollidioten. „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Ich dachte, das wäre eine Kunstaktion in Gedenken an Christoph Schlingensief.

Vor zwei Jahren war ich mit meiner Mutter und meinem Sohn bei dieser #unteilbar -Demo. „Für Frieden und Sozialismus“, witzelte meine Mutter.
„Immer bereit!“, brüllte ich.
„Für den kleinsten gemeinsamen Nenner“, meckerte mein Mann. Er blieb zuhause.
„Um 12 Uhr geht das los“, erklärte meine Mutter. „Halb eins hol ich euch ab, dann schenken wir uns die Kundgebung am Anfang und spazieren nur ein bisschen mit.“
Um 13 Uhr war der Kinderwagen aus dem Keller geholt, halb zwei saßen wir in der U-Bahn. Am Alexanderplatz hatte das Baby Hunger, am Brandenburger Tor die Hosen voll und während ich meinem Sohn auf dem Bürgersteig vorm Hotel Adlon die Windel wechselte, wehte aus dem Roten Block der MLPD von der Straße des 17. Juni das Einheitsfrontlied zu uns herüber.
„Wo dein Platz, Genosse, ist“, flötete ich und schmiss die Kackewindel in einen Papierkorb vor der Akademie der Künste. Dann gingen wir Kuchen essen. „Kindchen“, sagte meine Mutter und wischte sich den Mund. „Da müssen wir nicht noch mal hingehen.“ Ich war ein bißchen erleichtert.

Lea Streisands aktueller Roman Hufeland, Ecke Bötzow erschien 2019 bei Ullstein und ist ein Wenderoman aus Kinderperspektive.

Lea Streisand, geboren 1979 in Berlin, studierte Neuere deutsche Literatur und Skandinavistik. Jeden Montagmorgen liest sie auf radioeins vom rbb ihre Kolumne War schön jewesen – Geschichten aus der großen Stadt. Von 2003 bis 2014 trat sie vor allem auf Lesebühnen und Poetry Slams in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf. Ihre Lesebühne Rakete 2000 wurde 2012 zur besten Berliner Lesebühne gekürt. Seit 2005 schreibt Lea Streisand für die taz, seit 2014 ist sie Kolumnistin bei Radio Eins, 2016 erschien ihr Debütroman Im Sommer wieder Fahrrad im Ullstein Verlag zeitgleich mit dem Erzählband War schön jewesen.
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