2004 – Weg mit Hartz IV – Das Volk sind wir
Hintergrund – Deutschland, der „kranke Mann“ der EU | Montagsdemonstrationen – „Weg mit Hartz IV – Das Volk sind wir“
Hintergrund – Deutschland, der „kranke Mann“ der EU
Kollaps des Sozialstaates der Bonner Republik
Mit der Wiedervereinigung und dem Aufblühen des Neoliberalismus nach dem Ende des Kalten Krieges konnten die damit verbundenen sozialen Konsequenzen nicht mehr solidarisch abgefedert werden. Ende der 1990er Jahre kollabierte der deutsche Sozialstaat. Bei gleichzeitiger Abwanderung von Unternehmen ins Ausland wuchs die Arbeitslosigkeit gesamtdeutsch. Der nicht mehr finanzierbare Sozialstaat schränkte ganz allgemein die Handlungsfähigkeit einer jeden Regierung ein. Die Sozialpolitik wurde zur „Chefsache“ und nicht mehr wie bisher den Fachpolitikern und Sozialpartnern (DGB, BDA) überlassen. Damit endete die auf weitgehendem Konsens beruhende Praxis der alten Bundesrepublik. Der Reformdiskurs der 1990er Jahre im Osten übertrug sich nun auch auf Westdeutschland.
„Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – kurz: Hartz-Kommission
Statt die Meinungsbildung der traditionellen Sozialpartner einzubeziehen, installierte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) am 22.2.2002 eine 15-köpfige Expertenkommission (eine Frau) unter der Führung des VW-Managers Peter Hartz. Sie bestand aus acht Vertretern der Wirtschaft, zwei der Gewerkschaften, zwei Politikern, zwei Wissenschaftlern und einem Vertreter der Arbeitsämter.
Mit der Einsetzung der “Expertenkommission“ sicherte sich Schröder die Autorität seiner Regierung und legitimierte seine Reformen. Die Kommission beschrieb verschiedene Elemente zur Arbeitsförderung, die der Gesetzgeber rechtskräftig umsetzen sollte.
In vier Phasen wurde der Umbau vollzogen:
Hartz I: u.a. Stellung von Zeit- und Leiharbeit – seit 1.1.2003
Hartz II: u.a. Regelung geringfügiger Beschäftigung (Ich-AG, Minijobs) – seit 1.1.2003
Hartz III: u.a. Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit – seit 1.1.2004
Hartz IV: u.a. Abschaffung der Arbeitslosenhilfe – seit 1.1.2005
Der für sehr viele Menschen gravierendste Abschnitt war Hartz IV. Nun wurde die Zahlung von Arbeitslosengeld auf 12 Monate begrenzt. Dramatisch wirkte sich die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau (Arbeitslosengeld II oder „Hartz IV“) für viele Betroffene aus. Weiterhin beanspruchte der Staat ein erweitertes Zugriffsrecht auf mögliche Vermögenswerte der Arbeitslosen. Mit der „Agenda 2010“ setzte Bundeskanzler Schröder die neuen Maßgaben in die Praxis um.
Gerhard Schröder, Bundeskanzler, 14.3.2003: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“
Quelle: Bundesanstalt / Bundesagentur für Arbeit
Mit dem Jahr 2005 kam es zu erheblichen sozialen Verwerfungen. Bezogen 2004 ca. 2,2 Mio Menschen noch Arbeitslosenhilfe mit durchschnittlich 553 €, so verringerte sich im Jahr darauf für ca. 3,5 Mio Menschen die Unterstützung auf durchschnittlich 340 €. Seitdem wird über die Höhe der Grundsicherung heftig diskutiert, da ein soziokulturelles Existenzminimum, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleiste, bedeutend höher läge.
Bundesagentur für Arbeit: „Arbeitslosengeld II soll ein würdevolles Leben garantieren.“
Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit
Edmund Stoiber, bayerischer Ministerpräsident, Pressemitteilung 30. 05. 2006: „Es werden einfach nicht die richtigen Anreize gesetzt, wenn manche mit Hartz IV besser leben können als ein Taxifahrer, eine Friseurin oder ein Bäcker von seinem Lohn. Angesichts eines Sozialtransfers von bis zu 1700€ einschließlich Nebenleistungen bei nahezu unbegrenzter Freizeit fehlt der Anreiz, sich wirklich um einen Arbeitsplatz zu bemühen.“
Ziel der Reformen war es, Erwerbslosigkeit derart unattraktiv zu machen, so dass Betroffene stärker von sich aus Kräfte mobilisieren, diesen Status zu ändern. Das unterstellte unterschwellig, dass Langzeitarbeitslosigkeit gleichbedeutend mit Arbeitsverweigerung sei. Mit dieser Sichtweise ging auch eine Veränderung der Wahrnehmung in der Gesellschaft einher. Es schwand der Respekt vor gebrochenen Arbeitsbiografien. Pauschale Verallgemeinerungen von „Schmarotzer“ und „Drückeberger“ in der sozialen „Hängematte“ führten zu enormen Kränkungen, als „Hartzer“ identifiziert zu werden. Der damit im Zusammenhang stehende Sanktionsapparat der Arbeitsagenturen wurde ausführendes Organ der Vorurteile. Langzeitstudien bestätigten, dass nur eine Minderheit von acht bis zehn Prozent aller Leistungsempfänger von sich aus nicht mehr arbeiten will oder kann und sich mit der Situation abgefunden hat.
Über den Erfolg der Arbeitsmarkreformen gibt es unterschiedliche Ansichten.
PRO | CONTRA |
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Sozial ist, was Arbeit schafft | Kaum mehr erreicht als die Stabilisierung der Beitragssätze |
Arbeitslosigkeit hat sich halbiert | Verfassungswidrige Sanktionsregelungen |
Effektivere Arbeitsvermittlung | Bürokratisches Monster |
Flexibler Arbeitsmarkt (Leiharbeit, Befristung, Mini-Jobs) | Eingriff in Privatleben |
Prekarisierung |
Die Hartz-Reformen haben die Bundesrepublik auch politisch deutlich verändert. Nach den Niederlagen der SPD bei Landtagswahlen 2005 (vor allem in NRW) stellte Bundeskanzler Schröder vor dem Bundestag die Vertrauensfrage und fiel durch. Aus den Neuwahlen entstand die „Notlösung“ einer Große Koalition aus CDU und SPD. Die SPD gab durch ihre Politik das traditionelle Wählerpotential in der Arbeitnehmerschaft auf. Es folgte ein rasanter parlamentarischer Absturz. Innerhalb von 15 Jahren halbierte sich ihre Wählerschaft auf 20,5% im Jahr 2017.
Montagsdemonstrationen – „Weg mit Hartz IV – Das Volk sind wir“
Montagsdemonstration Leipzig, 09.08.2004 / Quelle: picture alliance
Bereits seit 2003 veranstaltete die MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands) Demonstrationen gegen den Sozialabbau, die aber kaum öffentliche Beachtung fanden. Großdemonstrationen gegen die „Agenda 2010“ fanden am 1. November 2003 (100.000 Protestierende) und am 3. April 2004 (250.000) in Berlin statt. Als jedoch am 19. Juli 2004 die Bundesagenturen für Arbeit damit begannen, die Formulare für das ab Januar 2005 geltende Arbeitslosengeld II zu verschicken, begann ein Zyklus bundesweiter Montagsdemonstrationen. Bereits eine Woche später demonstrierten in Magdeburg 600 Menschen, nachdem Andreas Ehrholdt unter dem Motto „Schluss mit Hartz IV, heute wir und morgen ihr“ zum Protest aufgerufen hatte. Den Ausgangspunkt bildete Sachsen-Anhalt, den Höhepunkt Leipzig mit 30.000 Demonstranten am 30.8.2004 und den längsten Atem hat das Ruhrgebiet bis in die Gegenwart.
Im August 2004 griffen die Montagsdemonstrationen auf andere Städte über. Westdeutsche Initiativen übernahmen die Protestform. Hamburg war eine der ersten westdeutschen Städte, in der sich am 9. August 2004 ca. 170 Menschen an dem Protest beteiligten. Ende des Monats erreichten die Montagsdemonstrationen ihren Höhepunkt mit ca. 200.000 Demonstranten in 220 Städten.
Die überproportionale Beteiligung in Ostdeutschland liegt weniger an der stärkeren Mobilisierung als vielmehr an der größeren Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit. Anders als die Proteste von 1991 entwickelten sich die neuerlichen Montagsdemonstrationen hier spontan und zunächst ohne institutionelle Unterstützung.
Doch bereits im September flaute die deutschlandweite Protestwelle ab und im Oktober betrugen die Teilnehmerzahlen nur noch wenige hundert. Viele Gruppierungen zogen sich ganz zurück.
„Etikettenschwindel“
Obwohl bis 2004 schon viele Proteste unter dem historischen Label „Montagsdemonstration“ stattfanden, wurde jetzt über die Legitimität des Gebrauchs gestritten. Prominente Stimmen sprachen sich dagegen aus, den historischen Begriff neu aufzuladen: „Blasphemie“ (Erich Loest), „Etikettenschwindel“ (Wolf Biermann), „töricht und geschichtsvergessen“ (Joachim Gauck), „Instrumentalisierung“ (Vera Lengsfeld). Auch die Regierungsparteien wiesen die Begrifflichkeit scharf zurück: „Zumutung und Beleidigung“ (Wolfgang Clement, SPD), „Schande“ (Reinhard Bütikofer, Bündnis 90 / Die Grünen), „zynisch und unangemessen“ (Rainer Fornahl, SPD). Die Regierungsparteien fühlten sich durch die Analogie in die Nähe des SED-Unrechts gerückt.
„Wir protestieren gegen Hartz IV“
Genau diese Einzelmeinungen nahmen andere ehemalige Oppositionelle aus der DDR wiederrum als „Vermessenheit“ wahr und solidarisierten sich mit den Protesten. Der Kampf um soziale Menschenwürde widerspreche nicht dem damaligen Ringen um allgemeine Menschenrechte.
Christian Führer, Pfarrer St. Nikolai Leipzig in Süddeutsche Zeitung, 9.8.2004: „Wir begrüßen, dass ihr gegen die Kommunisten auf die Straße gegangen seid, aber jetzt habt ihr die Klappe zu halten. - So geht das echt nicht.“
Der Ton wird rauer!
Montagsdemonstration in Leipzig, 30.08.2004 / Quelle: Bertram Kober / Punctum
Unter den Füßen vor allem der ostdeutschen Montagsdemonstranten verdichtete sich ein pauschales abwertendes Urteil gegenüber der Politik. Erstmals nach 1990 wurde lautstark eine ganze Gruppe von Menschen ohne Unterschied in die Haftung für das eigene Problem genommen. Damals die SED – heute alle Politiker: „Wir hier unten und die da oben.“ Politiker seien durch die Wirtschaft und die Sicherung eigener Pfründe interessengeleitet. Sie werden reicher und der „kleine Mann“ wird ärmer.
Bärbel Bohley, Mitbegründerin des Neuen Forum in der Berliner Morgenpost, 01.09.2004: „Die Politik und die Politiker haben sich vom Volk absolut entfremdet. Die Abgeordneten und Minister haben die, für die sie Politik machen sollen, nicht mehr im Blick. Schon allein deshalb müssen die Menschen deutlich machen: Wir sind das Volk!“
Die Dringlichkeit von Reformen auf dem Arbeitsmarkt bewirkte eine informelle Große Koalition der Volksparteien. Die parlamentarische Machtkonstellation der kommenden Jahre wurde bereits hier in praktischer Weise vorweggenommen. Dies bedeutete, dass keine der Volksparteien die Protestierenden unterstützte. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hielt sich zurück. Im Gegenzug verfestigte sich für viele der Eindruck zur Gewissheit, alle Politiker würden „unmoralisch“ handeln, denn es sei Aufgabe des Staates, sich fürsorglich und schützend für seine Bürger einzusetzen. Die Politiker begingen demnach eine „gefühlte“ Rechtsbeugung.
Hintergrund der diffamierenden Rhetorik war u.a. das in der DDR verinnerlichte Selbstverständnis von existentieller Sicherheit, womit der SED-Staat die tiefen Gräben im Gemeinwesen bis 1989 noch überbrücken könnte. Jetzt kratzte vehement die Realität der Marktwirtschaft daran.
Wieder blieb die politische Kultur im öffentlichen Debattenraum auf der Strecke. Der plumpe Dualismus von „oben“ und „unten“ wird seine Fortsetzung in den Pegida-Demonstrationen ab 2014 finden.
Vernetzung – Bündnis bundesweite Montagsdemo
Die Bewegung gegen Hartz IV brachte die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Die meisten waren Politneulinge und reagierten aus Betroffenheit. Die rasche Ausbreitung der Montagsdemonstrationen in ganz Deutschland spülte aber auch eine Minderheit von politisch organisierten Gruppen an die Oberfläche. Allen voran versuchte die MLPD, die spontane Erhebung für sich zu vereinnahmen. Das führte dazu, dass sich in manchen Städten (u.a. Berlin, Herne) die Bewegung teilte. In der Euphorie des Schwungs fühlte man sich schnell als die neue außerparlamentarische Opposition. Die alten Auseinandersetzungen der westdeutschen Linken fanden ein neues Podium.
Andreas Ehrholdt, Magdeburg, 28.08.2004: „Und Ihr Genosse Günter Slave, wie Sie Mitglied des ZK der MLPD, kommt aus Dresden angereist, um uns zu erklären wie wir unsere Arbeit machen müssen? Ich denke wir haben es ganz gut hinbekommen, darum machen Sie sich hier ziemlich breit im Forum. Wissen Sie noch, dass wir uns geschworen haben, hinter keiner Gewerkschafts- oder Parteifahne herzulaufen. Wie können Sie annehmen, dass wir hinter der der Marxistisch Leninistischen Partei Deutschlands herlaufen. […] Wollen Sie mich ärgern oder diskreditieren, damit Ihre Genossen es leichter haben, die Montagsdemo zu instrumentalisieren?“
Quelle: Sozialforum Dortmund
Auch der erste Versuch einer bundesweiten Vernetzung spaltete sich. Während am 28. August 2004 in Leipzig ein Koordinierungstreffen unter dem starken Einfluss der MLPD stattfand, berieten am selben Tag in Berlin Gruppen, die sich nicht vor den Karren der zentralistischen Kleinstpartei spannen lassen wollten. Bereits eine Woche später versuchte man in Leipzig, die Gräben zu überwinden und eine gemeinsame Großdemonstration in Berlin zu organisieren. Zwar einigte man sich auf den 2. Oktober 2004 (ca. 50.000 Demonstranten), doch die MLPD veranstaltete am Tag danach trotzdem einen Sternenmarsch durch Berlin, an dem sich ca. 10.000 Menschen beteiligten. Damit endete der massenwirksame Protestzyklus, der bereits im September drastisch abflaute. Trotzdem es in den Folgejahren große Bemühungen zur deutschlandweiten Vernetzung in Form von regelmäßigen Koordinierungstreffen gab, den Organisatoren gelang es nicht, die soziale Bewegung wieder zu beleben.
Im Moment der Vernetzung offenbarte sich auch ein Ost-West-Gegensatz. Während im Osten aus Betroffenheit für die Wiederherstellung des Status quo demonstriert wurde, fochten westdeutsche Initiativen für eine andere soziale Welt. Die unterschiedlichen Perspektiven führten auch zum Auseinanderfallen der Bewegung.
War die Beteiligung in Ostdeutschland überproportional höher, so ist die Beharrlichkeit der Montagsproteste im Westen sehr viel langlebiger, auch wenn nur noch wenige Dutzend Menschen auf die Straße gingen. Während es dem spontanen Protest an Alternativen zu „Weg mit Hartz IV“ fehlte, konnte der höhere Grad der Organisation im Westen das Protestparadigma immer wieder mit neuen Themen aufladen (z.B. Kapitalismuskritik, Umwelt, Trump-Kritik, Rassismus). Mittlerweile finden die Montagsdemonstrationen einmal im Monat statt.
Im Jahr 2020 gibt es noch mind. 35 Städte (6 in Ostdeutschland) mit mehr oder weniger aktiven Montagsdemonstrationen.
Flyer Braunschweig 2014 / Quelle: Bundesweite Montagsdemonstrationen
Nach 2005 bewegte man sich weitgehend wieder im eigenen Milieu und machte es sich dort gemütlich. In vielen Städten steht bis heute die MLPD hinter den Montagsdemonstrationen. Zwar ist die öffentliche Wahrnehmung gering, doch sie wäre wie bereits 2003 noch geringer, würde man sich nicht des „Montags“ bemächtigen, der die vielen dezentralen Proteste miteinander verbindet. Damit kann ein Massenprotest suggeriert werden.
Politische Nebenwirkungen der Hartz IV-Proteste
Mit den Hartz IV-Protesten kam es zu einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland. Die informelle Große Koalition zwischen den Parteien im Bundestag (SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP) und weiten Teilen der Gewerkschaften bewirkte die Stärkung der politischen Ränder. Vor allem die ostdeutsche PDS profitierte von den Protesten. Sie vermittelte das Bild, sich um die Belange „des Volkes zu kümmern“. Zwar beteiligte sie sich bei der Organisation der Montagsdemonstrationen nur mit Einzelpersonen, sie dominierte aber die Proteste im Erscheinungsbild vor allem in den Großstädten. Auf diese Weise konnte die PDS auch das westdeutsche Protestpotential für sich gewinnen.
Ehemalige SPD-Mitglieder und enttäuschte Mitglieder der Gewerkschaften gründeten eine linke Alternative zur SPD in Westdeutschland. Es entstand die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) zunächst im Juli 2004 als Verein und im Januar 2005 als Partei. Damit hatte die PDS einen Bündnispartner und es begann der Prozess zur Bildung einer gesamtdeutschen linken Partei.
Noch-SPD-Mitglied Oskar Lafontaine in Leipzig, 30.08.2004 / Quelle: Wolfgang Zeyen / Punctum
Entgegen der Forderung der Organisatoren den Politikern kein Podium bieten zu wollen, trat der ehemalige Finanzminister (bis 1999) in Leipzig auf und solidarisierte sich mit den Protesten.
Mit der WASG gelang es Lafontaine, zurück in die Politik zu finden. Zusammen mit PDS-Flaggschiff Gregor Gysi forcierte er die Vereinigung. Dafür nahm die SED-Nachfolgepartei 2005 eine neuerliche Umbenennung in „Linkspartei.PDS“ vor, um als juristische Person erhalten zu bleiben. Die Fusion zur gesamtdeutschen Partei „DIE LINKE“ wurde 2007 vollzogen. Seitdem ist die Partei Mitglied im Bundestag und sitzt im Jahr 2020 in zehn Landtagen.
Der Wolf im Schafspelz
Auch rechte Gruppierungen und Rechtsradikale partizipierten von den Montagsdemos. Sie entdeckten soziale Themen und protestierten gegen den Kapitalismus und die Globalisierung mit einem klaren Bezug zur einer völkischen (deutschen) Einheit. Damit gelang ihnen eine Mobilisierung außerhalb ihrer traditionellen Milieus. Die NPD profilierte sich als Interessenvertretung der „kleinen Leute“ und stieg vor allem in Sachsen zur neuen Protestpartei auf. Zwar konnten die neuen „Verteidiger des Sozialstaates“ in den Großstädten weitgehend isoliert werden, doch wie schon bei den Friedensdemonstrationen im Jahr zuvor gelang dies im ländlichen Raum nicht. In einigen Regionen Vorpommerns gehörte die NPD sogar zu den Organisatoren der Montagsdemonstrationen. „Hartz IV“ wurde zum Wahlkampfthema und die NPD zog in die Landtage von Sachsen (2004 - 9.2%) und Mecklenburg-Vorpommern (2006 – 7,3%) ein, ohne jedoch in irgendeiner Weise diesbezügliche Politik zu gestalten.