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„Wir sind das Volk“ - Das Volk als Souverän - 16.10. bis 6.11.1989

Die Entscheidung vom 9. Oktober 1989 in Leipzig wurde durch Massendemonstrationen in der gesamten DDR unumkehrbar gemacht. Die Menschen begriffen sich als Mitglieder der Gesellschaft und forderten ihre Rechte gegenüber der Herrschaft ein. In Analogie zur Französischen Revolution 1789 erhob sich der „Dritte Stand“ gegen die Mächtigen und Privilegierten. In diesem Sinne wurde das „Volk“ zum Träger der Souveränität. Diese Volkssouveränität legitimierte die Menschen, den öffentlichen Raum einzunehmen.

Montagsdemonstration, Leipzig, 30.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
Montagsdemonstration, Leipzig, 30.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer

Vom Erfolg der ersten Umrundung des Leipziger Ringes am 9. Oktober 1989 beflügelt, erreichte die Politisierung der Masse ihren Höhepunkt. Bis zum Mauerfall am 9. November stieg die Zahl der Demoteilnehmer in Leipzig von Woche zu Woche. Von Woche zu Woche stieg auch die Anzahl der Städte in denen montags demonstriert wurde.

 
Teilnehmer in Leipzig
Städte mit Demos in der DDR
Mo 16.10.1989
120.000
9
Mo 23.10.1989
150.000
29
Mo 30.10.1989
200.000
55
Mo 06.11.1989
300.000
86

 

Ohne Programmatik und ohne Führung entstand eine politische Bewegung der Selbstermächtigung in eigener Sache. Die SED versuchte, diese landesweite Dynamik zu stoppen. Das politische Kalkül der Masse war für sie weder berechenbar noch kontrollierbar. In die Enge getrieben signalisierte sie Gesprächsbereitschaft. Seit langem forderten politische Gruppen einen solchen gesellschaftlichen Diskurs, den die Staatspartei bisher ablehnte und bekämpfte. Über „Dialoge“ versuchte sie nun, ihren Herrschaftsbereich zu verteidigen.

„Gehen Sie besonnen und ruhig auseinander.“
Jochen Pommert, Sekretär der Bezirksleitung der SED, sprach neben acht weiteren Persönlichkeiten am 16. Oktober über den Stadtfunk zu den Demonstranten. Die SED wollte die Menschen von der Straße haben. Doch die Zeit der unverbindlichen Diskussionen war vorbei und die Demonstranten lachten über die Durchsagen. Mittlerweile ging es um die Durchsetzung konkreter Veränderungen.

Quelle: ABL

Die Demonstrationen waren rein formal nach wie vor „illegal“, weil durch die Behörden nicht genehmigt. Doch die Menschen ließen sich die Straße als einzigen SED-unabhängigen Kommunikationsraum nicht mehr nehmen.

Montagsdemonstration in Leipzig, Ende Oktober 1989 | Quelle: ABL / B. Heinze
Montagsdemonstration in Leipzig, Ende Oktober 1989 | Quelle: ABL / B. Heinze

Die bekannteste der neuen Gruppierungen war das „Neue Forum“. Die Demonstranten drängten die basisdemokratische Bewegung in eine Führungsrolle durch die Rufe „Neues Forum zulassen“. Politneulinge mussten praktisch über Nacht einen gesellschaftlichen Rahmen gestalten und die Verantwortung übernehmen, den Demonstrationen und der Bewegung Struktur und Gestalt zu geben. Das „Neue Forum“ erarbeitete sich dadurch einen Bonus, der sie bis zum vorläufigen Ende der Montagsdemonstrationen am 12. März 1990 legitimierte, als Veranstalter aufzutreten – obwohl bis dahin ganz andere Akteure die politischen Akzente setzten.

Michael Turek (Neues Forum): „Wir müssen alle daran arbeiten, dass es eine produktive Bewegung wird.“
Die „Spontanbewegung“ rang um Profil. Einzige programmatische Ausrichtung war zunächst die Etablierung einer kräftezehrenden Basisdemokratie. Demokratische Reformen sollten auf der Grundlage der Diskussion möglichst breiter Bevölkerungskreise erzielt werden. Bis zum Jahresende unterschrieben ca. 200.000 Menschen den Aufruf der Bürgerbewegung. Erst am 8. November 1989 wurde das „Neue Forum“ legalisiert.


„Neues Forum zulassen!“
Auf den Demonstrationen kam es auch zu einer ersten verbalen Abrechnung mit der alten Funktionärsriege. In dieser Phase waren sich die Demonstranten noch weitgehend einig darüber, dass die SED ihre Macht mit den neuen politischen Gruppen teilen muss. Die Menschen wollten an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen.

Ende Oktober thematisierten die Demonstrationen die Grenze und die Mauer, denn die Flüchtlingsströme rissen nicht ab. Auf der Demonstration am 23. Oktober wurde erstmals skandiert: „Die Mauer muss weg!“ Dazu kamen eine Woche später Transparente mit: „Visafrei bis Shanghai“, „Ohne Mauer auf die Dauer“, „Visafrei durch Europa“, „Krenzenlos“ oder „Reisefreiheit statt Massenflucht“.

Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 mit ca. 150.000 Teilnehmern | Quelle: ABL / R. Quester
Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 mit ca. 150.000 Teilnehmern | Quelle: ABL / R. Quester

Quelle: ABL / A52Radio Glasnost: „Ist die Demonstration zum Ritual geworden?“
Ernst Demele (Neues Forum): „Wir freuen uns immer darauf.“
Die Sendung der DDR-Opposition, die seit August 1987 von "Radio 100" aus Westberlin ausgestrahlt wurde, interviewte Ernst Demele nach der Demonstration am 30.10.1989. Demele zeigte sich begeistert von dem ungebrochen Interesse und dem Einfallsreichtum der Demonstranten. Gleichzeitig stellte er fest, dass sich wirkliche Veränderungen nur sehr zaghaft vollziehen.

Die SED versuchte zu bremsen, wo es nur ging. Doch auch der längst überfällige Rücktritt von Parteichef Erich Honecker am 18. Oktober 1989 und die von seinem Nachfolger Egon Krenz angekündigte „Wende“ konnte den einmal entfesselten Freigeist der Menschen nicht aufhalten. SED-Mitglieder verließen scharenweise ihre Partei. Im Bezirk Leipzig traten bis Mitte November 18.000 Mitglieder aus der Partei aus, 25 Grundorganisationen lösten sich auf. Trotzdem gab es noch etwa 120.000 Mitglieder im Bezirk.
Quelle: ABL
Audio:
AUDIO | Quelle: Sächsisches Staatsarchiv LeipzigTelefonischer Rapport der Volkspolizei-Kreisämter (VPKA) an die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Leipzig, Oktober 1989 „Das ist kein Zustand mehr.“
Strukturell ist die SED den Veränderungen nicht gewachsen. Die SED hatte durch ihren hierarchischen Aufbau in allen Betrieben (hier der Polizei) Parteigruppen mit einem hauptamtlichen Parteisekretär. Plötzlich wurden diese Funktionäre überflüssig.

 

Mit der Montagsdemonstration am 6. November 1989 wurde der Ton rauher. Erstmals wurde eine Kundgebung organisiert. An einem mehr oder weniger offenem Mikrophon sprachen 14 Redner. Ab jetzt prallten die unterschiedlichsten Meinungen aufeinander und polarisierten die Menge.

SED – das tut weh | Quelle: ABL„SED – das tut weh“ | Quelle: ABL
Roland Wötzel (SED): „Das war’s.“
Der neu gewählte 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Leipzig Roland Wötzel war einer der „Leipziger Sechs“ vom 9.10.1989. Seine Bedeutung in der Bewegung vollkommen überschätzend wurde Wötzel von der Masse gnadenlos ausgepfiffen.

Der Montag des 6. November 1989 spielte DDR-weit eine besondere Rolle. In mindestens 86 Orten des Landes fanden an diesem Tag Proteste statt - so viel wie an keinem anderen Tag bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990.

Den Hintergrund für den landesweiten Protest bildete die Massendemonstration in Berlin am Samstag den 4. November 1989. Auf dem Alexanderplatz fand die erste offiziell genehmigte und nicht staatlich gelenkte Demonstration der DDR mit einer Kundgebung statt. Schätzungen gehen von 250.000 bis 500.000 Teilnehmern.

Quelle: ABL / F. Sellentin
Berlin, 4.11.1989 | Quelle: ABL / F. Sellentin

Die von Berliner Theatermachern organisierte Veranstaltung wurde noch dazu live im DDR-Fernsehen übertragen. Damit wurde gleichzeitig und eher nicht beabsichtigt zum Protest gegen die SED in jedem Winkel der DDR aufgerufen. Es ging das Signal ins Land: Beruhigt euch nicht, bleibt auf der Straße. Die von Prominenten getragene Veranstaltung setzte vielerorts Kräfte frei.

 

Bereits für den Montag danach entstand ein kollektives Bewusstsein dafür, der Protest ist legitim. Öl ins Feuer goß die SED noch selbst. Sie veröffentlichte an diesem Montag den Entwurf eines neuen Reisegesetzes, der heftig diskutiert wurde, denn er ging absout an den Erwartungen der Menschen vorbei. Die Massenproteste reichten von vielen tausend Menschen in den Großstädten bis z.B. ca. 80 Teilnehmer in der Gemeinde Schmölln im Bezirk Neubrandenburg (Mecklenburg - Vorpommern). Hier rief ein Bürger zum „Dialog“ vor den örtlichen Lebensmittelladen auf und es wurden Probleme des Handels und der Versorgung thematisiert. In der Gemeinde blieb es die einzige Aktion 1989/90. DDR-weit waren geschätzte 890.000 Menschen an diesem Montag auf der Straße.

Audio:
AUDIO | Quelle: Sächsisches Staatsarchiv LeipzigTelefonischer Rapport der Volkspolizei-Kreisämter (VPKA) an die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Leipzig, November 1989
„Jetzt geht es ja auch in der Provinz los.“
Die SED-Grundorganisation der Polizei in der durch das Gefängnis berühmt-berüchtigten Stadt Waldheim berichtete von ersten demonstrativen Aktionen in der Kleinstadt. Gleichzeitig wird in dem Ausschnitt deutlich wie die normalen parteiinternen Abläufe weiterhin wirkten.

Nach dem 4.11.1989 produzierte Aufkleber | Quelle: ABLChristoph Hein: „Wir haben uns an den langen Titel: Berlin, Hauptstadt der DDR, gewöhnt, ich denke, es wird leichter sein, uns an ein Straßenschild: Leipzig, Heldenstadt der DDR, zu gewöhnen.“
Der Schriftsteller Christoph Hein regte auf der Berliner Demonstration vom 4.11. an, Leipzig zur Heldenstadt der DDR zu ernennen. Er wollte damit in ironischer Weise vor dem Wolf im Schafspelz warnen, der in Gestalt von SED-Chef Krenz die „Wende“ für sich beanspruchte. „Es war die Vernunft der Straße, die Demonstrationen des Volkes. Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden, könnte die Arbeit, die gerade beginnt, nicht erfolgen. Und da ist an erster Stelle Leipzig zu nennen.“

Unfreiwillig beförderte Christoph Hein die Mythenbildung der Leipziger Montagsdemonstrationen. Seine Formulierung verselbstständigte sich sehr schnell, denn sie fiel in Leipzig auf einen äußerst fruchtbaren Nährboden eines gekränkten Selbstwertgefühls gegenüber der Hauptstadt Berlin. In dieser Zeit und aus diesem Boden kam auch das Gerücht auf, Leipziger Tankwarte hätten im September / Oktober Autofahrern aus dem Norden der DDR oder gar aus Berlin, erkennbar an den Nummernschildern, kein Benzin verkauft: „Geht erst mal demonstrieren!“ Man fühlte sich als moralisches Gewissen und als Avantgarde der Bewegung, von „denen da oben in Berlin“ nicht mehr bevormundet und zurückgesetzt werden zu wollen. Sich als „Held“ zu fühlen, beflügelte außerdem den sächsischen Patriotismus.

Quelle: ABL / B. Heinze

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